Arbeitsrecht

Präsenzsitzungen betriebsverfassungsrechtlicher Gremien während der Corona-Pandemie

  1. § 129 BetrVG ermöglicht es dem Betriebsrat und den übrigen dort genannten Arbeitnehmervertretungen, für die Durchführung von Sitzungen auf Video- und Telefonkonferenzen zurückzugreifen. Die Nutzung solcher Teilnahmemöglichkeiten tritt als zusätzliche Option neben die hergebrachte Durchführung von Sitzungen unter physischer Anwesenheit der Teilnehmer vor Ort. Ein grundsätzlicher Vorrang der Durchführung als Telefon- oder Videokonferenz kann aus der Vorschrift nicht hergeleitet werden.
  2. Offen bleibt, ob im Einzelfall und unter außergewöhnlichen Umständen der Betriebsrat oder eine der übrigen in § 129 BetrVG genannten Arbeitnehmervertretungen zu einer Sitzungsdurchführung unter Nutzung von Teilnahmemöglichkeiten mittels Telefon- oder Videokonferenz angehalten sein kann. (amtl. Leitsätze)

Was ist passiert?

Die Beteiligten streiten darüber, ob die Arbeitgeberin die Durchführung von Sitzungen des Gesamtbetriebsrats (GBR) und des Gesamtbetriebsausschusses (GBA) als Präsenzsitzung untersagen darf. Der Antragsteller, ein 35-köpfiger überregionaler GBR, sowie der von ihm gebildete GBA hatten aufgrund der Corona-Pandemie ihre Sitzungen ab Ende März 2020 zunächst als Telefonkonferenz durchgeführt. Die für Mitte August 2020 vorgesehene mehrtägige Sitzung des GBA sollte aber als Präsenzsitzung in Koblenz durchgeführt werden. Nachdem sich Mitte Juli mehrere bei der Arbeitgeberin angestellten Ärzte auf einer privaten Zusammenkunft mit dem Corona-Virus infiziert hatten, was zu einer Quarantäne-Anordnung gegenüber 130 Patienten führte, untersagte die Arbeitgeberin allen Beschäftigten die Teilnahme an klinikübergreifenden Präsenzveranstaltungen. Dies erstreckte sie ausdrücklich auch auf Betriebsrats- und Ausschusssitzungen und widerrief die zuvor für die August-Sitzung des GBA erteilte Kostenzusage. Der GBR leitete ein einstweiliges Verfügungsverfahren ein und beantragte u. a., der Arbeitgeberin aufzugeben, es zu unterlassen, Präsenzsitzungen, insbesondere die geplante August-Sitzung in Koblenz, zu untersagen.

Das ArbG hat die Anträge des GBR zurückgewiesen. Hiergegen legte der GBR Beschwerde ein und stellte neben dem Antrag auf Unterlassung der Untersagung von Präsenzsitzungen Unterlassungsanträge in Bezug auf die Untersagung konkreter Sitzungen im September 2020, sowie weitere im Zusammenhang mit der Durchführung dieser Sitzungen stehende Unterlassungsanträge.

Wie hat das LAG entschieden?

Die Beschwerde des GBR hatte teilweise Erfolg. Das LAG gab dem Antrag auf Unterlassung der Untersagung der September-Sitzung sowie der Stornierung des Hotels und der Verweigerung der Kostenübernahme statt. Zwar bedürften die Mitglieder des GBR und GBA nicht der Erlaubnis des Arbeitgebers für die Teilnahme an Sitzungen. Die Untersagung der Sitzung stelle jedoch eine Behinderung der (Gesamt)Betriebsratstätigkeit und damit einen Verstoß gegen § 78 BetrVG dar. Die September-Sitzung müsse als Präsenz-Sitzung durchgeführt werden, da Wahlen zum stellvertretenden GBR-Vorsitz sowie für Ausschüsse des GBR anstünden, die geheim und nach den Grundsätzen der Verhältniswahl durchzuführen seien, was mittels Video- oder Telefonkonferenz nicht möglich sei. Auf Wahlen finde § 129 BetrVG keine Anwendung. Auch eine Briefwahl sehe das Gesetz nicht vor. Die Sitzung verstoße auch nicht gegen die am Sitzungsort geltende Verordnung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Dem Arbeitgeber stehe kein Weisungsrecht in Bezug auf die Sitzungsteilnahme zu.
Das LAG bestätigte hingegen die erstinstanzliche Zurückweisung des Antrags, die Untersagung von Präsenzsitzungen generell zu unterlassen. Die Vorschrift des § 129 BetrVG sei noch sehr neu; sie normiere zwar keinen Vorrang für Telefon-/Videokonferenzen, sie könne aber evtl. dahingehend auszulegen sein, dass der Vorsitzende bzw. das Gremium eine ermessensähnliche Entscheidung zu treffen habe.

Fazit

Die vorliegende Entscheidung ist soweit ich erkennen kann, die erste höhergerichtliche Entscheidung zur Reichweite des neuen § 129 BetrVG. Auch wenn die Regelung derzeit bis zum 31.12.2020 befristet ist, ist absehbar, dass sie verlängert werden wird und der Gesetzgeber dauerhaft die Möglichkeit einer Telefon- oder Videokonferenz schaffen wird. Insoweit gibt die Entscheidung des LAG Berlin schon einige wichtige Hinweise in die Zukunft.

Das Dilemma ist sicherlich für den Betriebsrat, dass ein gesteigertes Infektionsrisiko einerseits und das Interesse an einer Präsenzsitzung andererseits jeweils gut abgewogen sein muss. Insbesondere wenn Wahlen anstehen, ist nach derzeitigem Stand der Dinge eine Onlinekonferenz nicht möglich. Andererseits muss bei Onlinekonferenzen immer sichergestellt werden, dass nicht unbefugte Dritte zufällig oder absichtlich mithören können. Keine leichte Aufgabe für den Betriebsrat.

(LAG Berlin-Brandenburg, Beschluss vom 24.8.2020 – 1 12 TaBVGa 1015/20)