Arbeitsrecht

Entgeltfortzahlung bei Arbeitsunfähigkeit – Verschulden bei langjähriger Alkoholabhängigkeit

Eine Arbeitsunfähigkeit ist nur dann verschuldet i.S.v. § 3 Abs. 1 Satz 1 EFZG, wenn ein Arbeitnehmer in erheblichem Maße gegen das von einem verständigen Menschen in seinem eigenen Interesse zu erwartende Verhalten verstößt. Nur dann verliert er seinen Anspruch auf Entgeltfortzahlung. Bei einem alkoholabhängigen Arbeitnehmer fehlt es suchtbedingt auch im Fall eines Rückfalls nach einer Therapie regelmäßig an einem solchen Verschulden.

Was ist passiert?

Die Klägerin, eine gesetzliche Krankenkasse, verlangt von der beklagten Arbeitgeberin Krankengeld zurück, dass sie für die Zeit vom 29.11. bis zum 30.12.2011 an den alkoholabhängigen Herr L. gezahlt hatte. Herr L. war seit dem Jahr 2007 bis zum 30. Dezember 2011 Arbeitnehmer der beklagten Arbeitgeberin und wurde am 23. November 2011 mit einer Alkoholvergiftung (4,9 Promille) in ein Krankenhaus eingeliefert. In der Folge war Herr L. mehr als zehn Monate arbeitsunfähig. Er hatte bereits zwei stationäre Entzugstherapien durchgeführt. Es kam jedoch immer wieder zu Rückfällen. Deshalb leistete die Arbeitgeberin auch keine Lohnfortzahlung mehr. Stattdessen erhielt Herr L. Krankengeld von seiner Krankenkasse. Die Klägerin macht jetzt in Höhe des geleisteten Krankengeldes Ansprüche auf Entgeltfortzahlung aus übergegangenem Recht (§ 115 SGB X) gegenüber der Beklagen geltend. Sie meint, ein Entgeltfortzahlungsanspruch gegen die Beklagte habe bestanden, da es an einem Verschulden des Herrn L. für seinen Alkoholkonsum am 23. November 2011 fehle. Die Beklagte ist der Ansicht, ein Verschulden sei bei einem Rückfall nach mehrfachem stationärem Entzug und diesbezüglich erfolgter Aufklärung zu bejahen.

Arbeitsgericht und Landesarbeitsgericht haben der Klage stattgegeben.

Wie hat das BAG entschieden?

Die Revision der Beklagten hatte vor dem Zehnten Senat des Bundesarbeitsgerichts keinen Erfolg. Bei einer Alkoholabhängigkeit handelt es sich um eine Krankheit. Wird ein Arbeitnehmer infolge seiner Alkoholabhängigkeit arbeitsunfähig krank, kann nach dem derzeitigen Stand der medizinischen Erkenntnisse nicht von einem Verschulden im Sinne des Entgeltfortzahlungsrechts ausgegangen werden. Die Entstehung der Alkoholsucht ist vielmehr multikausal, wobei sich die unterschiedlichen Ursachen wechselseitig bedingen. Dies gilt im Grundsatz auch bei einem Rückfall nach einer durchgeführten Therapie. Im Hinblick auf eine Abstinenzrate von 40 bis 50 % je nach Studie und Art der Behandlung kann nach einer durchgeführten Rehabilitationsmaßnahme jedoch ein Verschulden des Arbeitnehmers an einem Rückfall nicht generell ausgeschlossen werden. Der Arbeitgeber kann deshalb in diesem Fall das fehlende Verschulden bestreiten. Das Arbeitsgericht hat dann ein medizinisches Sachverständigengutachten zu der Frage einzuholen, ob der Arbeitnehmer den Rückfall schuldhaft i.S.d. § 3 Abs. 1 EFZG herbeigeführt hat. Lässt sich dies nicht eindeutig feststellen, weil ein Ursachenbündel hierfür vorliegt, geht dies zulasten des Arbeitgebers. Das im konkreten Fall eingeholte sozialmedizinische Gutachten hat ein Verschulden des Arbeitnehmers unter Hinweis auf die langjährige und chronische Alkoholabhängigkeit und den daraus folgenden „Suchtdruck“ ausgeschlossen.

Fazit

Die Entscheidung des 10. Senats des BAG wäre für sich genommen vielleicht gar nicht so erwähnenswert, wenn sie nicht in einem gewissen Widerspruch zu den Entscheidungen des für Kündigungen zuständigen 2. Senat des BAG stünde. Der hatte nämlich in seiner Entscheidung vom 07.12.1989 (2 AZR 134/89) nicht beanstandet, dass einem rückfällig gewordenen alkoholkranken Arbeitnehmer aus verhaltensbedingten Gründen gekündigt worden ist. Während also der zweite Senat bei einem Rückfall von einem Verschulden ausgeht, ist der 10. Senat da wesentlich zurückhaltender. Diese Rechtsprechung des 2. Senats ist nicht unumstritten. In der Fachliteratur wurde immer schon die Auffassung vertreten, dass auch bei einem Rückfall nach erfolgreicher Entziehungskur und längerer Abstinenz nicht zwangsläufig von eigenem Verschulden eines Mitarbeiters ausgegangen werden könne. Einen solchen Erfahrungsgrundsatz gebe es nicht. Zwar hat auch der 2. Senat in einer späteren Entscheidung aus dem Jahr 1996 selber darauf hingewiesen, dass er dies in dieser Deutlichkeit auch gar nicht gesagt habe. Dennoch bin ich gespannt, ob der 2. Senat in seiner Rechtsprechung bei verhaltensbedingten Kündigungen infolge eines Rückfalls bei Alkoholabhängigkeit in dieser Form so aufrechterhalten wird.

(BAG, Urteil vom 18. März 2015 – 10 AZR 99/14)
(Quelle: Pressemitteilung des BAG Nr. 14/15)