Arbeitsrecht

Frühzeitige Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheit bei der Verwirklichung des Urlaubsanspruchs

Die bei einer mit Art. 7 RL 2003/88/EG konformen Auslegung von § 7 BUrlG bei Langzeiterkrankungen geltende 15-monatige Verfallfrist kann ausnahmsweise unabhängig von der Erfüllung der Aufforderung- und Hinweisobliegenheiten beginnen, wenn die Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers so früh im Urlaubsjahr eintritt, dass es dem Arbeitgeber tatsächlich nicht möglich war, zuvor seinen Obliegenheiten nachzukommen. (amtl. Leitsatz).

Was ist passiert?

Die Parteien streiten über die Abgeltung von Urlaub aus 2016. Der bei der Beklagten seit 01.11.1989 beschäftigte Kläger war seit 18.01.2016 bis zur Beendigung des Arbeitsverhältnisses am 28.02.2019 durchgehend arbeitsunfähig erkrankt. Im Rahmen des Aufhebungsvertrages ließen die Parteien den streitigen Resturlaub aus 2016 offen. Der Kläger verlangt die Abgeltung von 30 Arbeitstagen Urlaub aus dem Jahr 2016. ArbG und LAG wiesen die Klage ab.

Wie hat das BAG entschieden?

Die Revision des Klägers hatte vor dem Neunten Senat des Bundesarbeitsgerichts teilweise Erfolg. Nach Auffassung des BAG sind fünf Arbeitstage Urlaub nicht verfallen.

Der 9. Senat entwickelt im Anschluss an das Urteil des EuGH vom 22.09.2022 die Voraussetzungen, unter denen der Anspruch auf den gesetzlichen Mindesturlaub bei einer langandauernden Arbeitsunfähigkeit des Arbeitnehmers verfallen könne, weiter. Bei „richtlinienkonformer Auslegung“ des § 7 Abs. 1 und 3 BUrlG erlösche Urlaub nach Ablauf von 15 Monaten, wenn der Arbeitnehmer seit Beginn des Urlaubsjahres durchgängig bis zum 31.03. des zweiten auf das Urlaubsjahr folgenden Kalenderjahres arbeitsunfähig gewesen sei. In diesem Fall trete die Rechtsfolge unabhängig davon ein, ob der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachgekommen sei. Habe der Arbeitnehmer hingegen im Verlauf des Urlaubsjahres gearbeitet, bevor er arbeitsunfähig erkrankt sei, könne der Urlaubsanspruch grundsätzlich dann nach Ablauf der 15-Monatsfrist verfallen, wenn der Arbeitgeber die Inanspruchnahme des Urlaubs zuvor in gebotener Weise ermöglicht habe. Hierfür müsse der Arbeitgeber seinen Mitwirkungsobliegenheiten nachkommen, insbesondere den Arbeitnehmer tatsächlich in die Lage versetzt haben, seinen Urlaubsanspruch wahrzunehmen.

Eine besondere Konstellation entsteht aber dann, wenn ein Mitarbeiter – wie hier – so früh im Jahr erkrankt, dass der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit bei der Gewährung des Urlaubs noch nicht erfüllt hat. Dem Arbeitgeber müsse es tatsächlich möglich sein, den Arbeitnehmer vor dessen Erkrankung in die Lage zu versetzen, Urlaub zu nehmen. Solange dies aufgrund des frühen Zeitpunkts des Krankheitseintritts im Urlaubsjahr nicht der Fall sei, könne die Befristung des Urlaubsanspruchs nicht von der Erfüllung der Mitwirkungsobliegenheiten abhängen. Aufforderung und Hinweis müssten nicht sofort nach Urlaubsentstehung erfolgen, sondern ohne schuldhaftes Zögern. Da die Berechnung des Urlaubsanspruchs und die Formulierung der Belehrung regelmäßig keine besonderen Schwierigkeiten bereiten würden, sei unter normalen Umständen eine Zeitspanne von einer Woche ausreichend. In der Regel handele der Arbeitgeber nicht unverzüglich, wenn er seine Mitwirkungsobliegenheiten erst später als eine Woche nach Urlaubsentstehung erfülle. Die Beklagte habe ihre Mitwirkungsobliegenheiten nicht vor dem 08.01.2016 erfüllen müssen. Nach diesem Zeitpunkt bis zum Eintritt der dauerhaften Arbeitsunfähigkeit lägen fünf Urlaubstage, die weiterhin abzugelten seien.

Fazit

Es ist durchaus nachvollziehbar, dass der EuGH und ihm folgend das BAG angenommen haben, dass den Arbeitgeber bei der Urlaubsgewährung eine Mitwirkungsobliegenheit trifft. Verletzt er diese, dann kann er sich ggf. nicht auf den Verfall des nicht genommenen Urlaubs berufen. Das hat in der Praxis dazu geführt, dass viele Arbeitgeber im Herbst jeden Jahres alle Mitarbeitenden schriftlich auffordern, ihren restlichen Jahresurlaub in Anspruch zu nehmen, da er anderweitig verfallen könne. Mit der jetzigen Entscheidung des BAG langt das aber nicht, wenn ein Mitarbeiter vor Erhalt eines solchen Schreibens langzeitkrank wird. Um sich sicher auf den Verfall des wegen Krankheit nicht genommenen Urlaubs berufen zu können, muss der Arbeitgeber seine Mitwirkungsobliegenheit spätestens eine Woche nach Entstehung des Urlaubsanspruchs erfüllen. Werden wir uns also darauf einstellen müssen, dass die Aufforderung, den Urlaub zu verplanen, schon mit den guten Wünschen zum neuen Jahr kommt?

(BAG, Urteil vom 31.01.2023 – 9 AZR 107/20)